Energieeffizienz , Haus & Wohnen
25.11.22
Annette Jenny forscht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) zu diesem Thema. Sie betont, dass eine Dekarbonisierung ohne Suffizienz nicht möglich ist. Denn unsere bisherigen Klimaschutzmassnahmen zielen nur teilweise in die richtige Richtung. So ist die Substitution von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor durch Elektroautos zwar sinnvoll, aber nutzlos oder gar kontraproduktiv gegen die gigantische Ressourcenverschleuderung des motorisierten Privatverkehrs und seiner Infrastruktur. Für die Dekarbonisierung des Verkehrs reicht darum eine «Antriebswende» nicht. Es braucht eine massive Reduktion der Mobilität sowie ressourcenschonende Mobilitätskonzepte.
Das riecht nach Verzicht und Askese in einer Welt, in der kein Wachstum und keine Kreativität mehr möglich sind, so wie es der Club of Rome 1972 in seiner bahnbrechenden Studie «Die Grenzen des Wachstums» vorausgesagt hat. Bis etwa zum Ende des 18. Jahrhunderts – vor der flächendeckenden Nutzung der fossilen Brennstoffe, insbesondere der Kohle – war das allerdings sehr verbreitet. Viele kleinstaatliche Gebilde in Europa waren Nullwachstumsgesellschaften. In der Schweiz war das etwa die Stadt Solothurn. Baumaterialien wurden peinlich genau wiederverwendet, bauen durfte nur, wer nachweisen konnte, dass er die geschlagenen Bäume wieder anpflanzt, und heiraten war nur jenen erlaubt, die nachweislich eine Familie ernähren konnten. Zünfte und Märkte waren streng organisierte Kartelle, die Innovationen, Preiskämpfe und Konkurrenz verhinderten. Überzählige Kinder mussten ins Kloster oder auswandern. Eine dystopische Zukunftsperspektive.
Dass das auch völlig anders aussehen kann, zeigt die Wohngenossenschaft Kalkbreite in Zürich. Baumanager Thomas Sacchi war für die Genossenschaft der Bauherrenvertreter gegenüber Architekten und Behörden. Er steht auf dem sonnigen, erhöhten Innenhof der riesigen Genossenschaftsanlage. «In einer Abstimmung im Jahr 1978 wurde mit einer Volksinitiative entschieden, dass hier, auf dem Parkplatz für die Trams der Verkehrsbetriebe Zürich, irgendwann einmal Wohnungen entstehen sollen. Doch das Grundstück galt als untauglich zum Wohnen – Strasse, Tramdepot und Bahnhof Wiedikon, zu viel Verkehr, zu viel Lärm. Und die Trams sollten gar nicht weg – sie hätten nur neue Gleise bekommen sollen.
Trotzdem gründeten die Initianten den Verein Kalkbreite und überlegten sich in vielen Arbeitsgruppen, wie das aussehen könnte: mit Wohnen im Alter, Wohngemeinschaften und möglichst wenig Ressourcenverbrauch. Aus dem Verein wurde eine Genossenschaft, die dann zur Überraschung aller von der Stadt den Zuschlag für die Planung einer Wohn- und Gewerbeüberbauung erhielt. «Die entscheidenden Punkte für unseren Überkonsum sind Mobilität und zu grosse Wohnflächen», sagt Thomas Sacchi. Das Problem der Mobilität löst das Grundstück mit eigener Tramhaltestelle und eigenem Bahnhof gleich selbst. Parkplätze gibt’s keine: Wer einziehen will, muss sich verpflichten, kein Auto zu besitzen.
Auch die Wohnflächen sind klein. In der Schweiz sind es im Durchschnitt 44 Quadratmeter pro Person. Die Kalkbreite gesteht ihren Genossenschaftern im Schnitt 32 Quadratmeter pro Person zu, einschliesslich der Anteile an gemeinschaftlichen Räumen wie Werkstätten, Café, Yogazimmer, Fitnessraum oder Nähatelier. In Dreizimmerwohnungen müssen mindestens zwei Personen leben, in Vierzimmerwohnungen mindestens drei und in Fünfzimmerwohnungen mindestens vier. Falls Gäste kommen, können die Bewohner Gästezimmer dazumieten. Um die Nutzung flexibel zu machen, wurde dazu die kommerzielle Pension Kalkbreite mit zwölf Zimmern geschaffen.
Markus Urbscheit lebt seit 2014 in der Kalkbreite und geniesst mit seinem Sohn die urbanen Gärten der Genossenschaft.
Die Kalkbreite bietet öffentliche Räume, Gemeinschaft und trotzdem genügend Privatsphäre für alle.
Die Verwaltung ist am Nachmittag an einer besetzten Réception anwesend, die der Anlage den edlen Touch eines Hauses mit Concierge-Loge gibt. Der Mut zur Genügsamkeit zeigt in der Kalkbreite aber noch ganz andere Resultate. So gibt es eine Familien-Wohngemeinschaft (WG) sowie eine grosse WG, in der Landschaftsarchitekt Markus Urbscheit lebt. Auf 380 Quadratmetern wohnen 14 WG-Partner. Es gibt drei Küchen und zwei Eingänge aus zwei verschiedenen Treppenhäusern. Urbscheit schätzt die weitläufige Wohnung mit vielen unterschiedlichen Leuten. «In einer so grossen WG kann man sich eher aus dem Weg gehen oder findet eher Leute, mit denen man sich versteht, als wenn nur drei oder vier Leute in einer Wohnung leben», meint er. Und da tagsüber die meisten Mieter weg sind, hat er die grosse Wohnung oft praktisch für sich allein.
Neben den Küchen und den gemeinsamen Aufenthaltsräumen hat die WG auch sogenannte Lärm-Loggias, eingezogene Balkonnischen. Sie sollen den Strassenlärm im Innern mindern, fühlen sich aber an wie geschützte Balkone in Altbauten. Neben dem gemäss Baurechtsvertrag öffentlich zugänglichen Innenhof waren anfänglich auch die stufenartig aufsteigenden Dachterrassen der Öffentlichkeit zugänglich. Da es in den oberen Bereichen immer wieder zu Vandalismus gekommen ist, wird dieser Teil seit einem Jahr abgesperrt, und die Bewohnerinnen und Bewohner nutzen ihn als Aussenraum. «Seither entwickeln sich hier vielfältige Dachgärten, und die Räume werden stärker genutzt», erzählt Thomas Sacchi.
Doch Suffizienz müsste sich auf noch viel mehr Bereiche ausweiten, insbesondere auf Firmen und die Verwaltung. Zwar wächst ein grosser Teil der Unternehmen nicht oder kaum. Trotzdem gelten Unternehmer mit konstantem Umsatz und gleichbleibender Mitarbeiterzahl als Versager. Denn unser ganzes Wirtschaftssystem ist auf Wachstum ausgerichtet. Auch die Altersversorgung der ersten und zweiten Säule mit AHV und Pensionskassen ist darauf angewiesen.
Deshalb müsste die Altersversorgung vom Wirtschaftswachstum entkoppelt werden. Für das Steuersystem sollten Alternativen zur starken Besteuerung der Erwerbsarbeit gesucht werden. So könnte man statt Arbeit Emissionen und Energie besteuern. Forscherin Annette Jenny betont deshalb, dass individuelle Initiativen zur Suffizienz zwar wichtig sind, aber nirgends hinreichen:
Reiche Gesellschaften wie die Schweiz haben den grössten Hebel. Die reichsten 10 Prozent der Welt und in jeder Gesellschaft verbrauchen 40 Prozent der Ressourcen, die mittlere Hälfte verbraucht 50 Prozent. Die ärmsten 40 Prozent beanspruchen dagegen nur gerade 10 Prozent der Ressourcen. Die Reichen haben demnach nicht nur am meisten verzichtbare Dinge, sondern auch die meisten Möglichkeiten, ihren Lebensstil umzustellen.
Einfach ist das nicht. Seit dem Zweiten Weltkrieg wird Wachstum mit Wohlstand gleichgesetzt. Das war während der Aufbaujahre vielleicht sogar sinnvoll, ist heute aber kontraproduktiv. Wenn Wohlstand nicht mehr an der Anzahl Autos und an Quadratmetern Wohnfläche gemessen wird, ist für weniger Geld plötzlich viel mehr Lebensqualität möglich – sogar an einem scheinbar fürs Wohnen ungeeigneten Ort wie der Kalkbreite. Im Hof ist immer Leben, es gibt Bars, ein Restaurant und Läden, ein Hauch von Hotelferien. Die Kalkbreite ist so erfolgreich, dass der Genossenschaft mit dem eben eröffneten Zollhaus ein weiteres Problemgrundstück anvertraut wurde. Wenn Suffizienz nicht Verzicht und Askese ist, wird alles plötzlich kreativer, bunter, luxuriöser und schafft ungeahnten finanziellen Spielraum.
Gut zu wissen – Weniger ist mehr
Je mehr man kauft und hat, desto höher der Wohlstand, wird suggeriert. Allerdings zeigt die Forschung von Annette Jenny, dass es genau umgekehrt ist. Menschen, die ihr Leben stark auf materielle Ziele ausrichten, sind tendenziell unglücklicher als jene, die andere Prioritäten haben – gute Beziehungen, persönliche Entwicklung oder Naturverbundenheit. Sie kaufen nur die nötigsten Kleider, brauchen das Auto selten oder im Carsharing und nutzen das Mobiltelefon, bis es den Geist aufgibt, statt immer das neueste Modell zu kaufen. Wer sich dagegen dauernd mit anderen vergleicht, ist eher unglücklich. Es gibt immer jemanden mit einem schöneren Haus oder einem teureren Auto. Der Ausbruch aus dem Teufelskreis des Konsumzwangs ist deshalb oft ein grosser Gewinn an Lebensqualität. |
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