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Christian Aeberhard / zVg Museum für Musikautomaten Seewen SO Die Britannic-Orgel nimmt im Museum für Musikautomaten in Seewen einen ganzen Raum ein.
Gesellschaft

Die verschollene Orgel der unbekannten «Titanic»-Schwester

Erst seit 2007 kennt man die ganze Geschichte des spektakulärsten Ausstellungs­stücks des Museums für Musikautomaten. Das Orchester der «Titanic» ist legendär. Bandleader Wallace Hartley spielte mit seinen Musikern bis zum letzten Moment. Zehn Tage später fand ein Suchschiff seine Leiche im Wasser treibend, aufrecht in einer Schwimm­weste hängend, mit umgeschnalltem Geigen­kasten mit seiner geliebten Geige drin, einem Geschenk seiner Verlobten.

Salonorchester gehörten zur festen Ausstattung der grossen Transatlantik­dampfer jener Zeit. Sie hatten ein grosses Repertoire und spielten die neusten Hits, um 1912 vor allem Ragtime, jenen Stil, mit dem sich die Musik des schwarzen Amerikas in die Salons der Weissen hinein­schlich. Die Schiffs­musiker waren Könner, schliesslich bedienten sie ein verwöhntes Publikum, entsprechend teuer war der Unterhalt eines Orchesters. Doch die Reederei White Star Line und die Werft Harland & Wolff in Belfast waren schon immer der letzten technischen Innovation auf der Spur, und deshalb schien eine Konzert­orgel eine adäquate Attraktion als Ergänzung oder gar Ersatz für das Bordorchester.

Die Orgel beschallt ein ganzes Schiff

Bei der «Britannic», dem dritten Schiff der nach dem ersten Schiff der Gruppe benannten «Olympic»-Klasse, kam vor allem nach dem Untergang der «Titanic» ein weiteres delikates Problem dazu. Jedes Orchester würde bei den Passagieren unweigerlich die Erinnerung an Wallace Hartley und seine Musiker wachrufen, vor allem, wenn sie die untrennbar mit der «Titanic»-Katastrophe verbundenen Stücke «Näher mein Gott zu dir» oder auch «Alexander’s Ragtime Band» spielten.

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Die Britannic-Orgel kann auch von einem Organisten gespielt werden – oder vom über den Manualen sichtbaren Rollenabspielgerät.

Allerdings war der Entscheid für eine grosse Konzert­orgel auf den neuen Schiffen der White Star Line wahrscheinlich schon vor der «Titanic»-Katastrophe gefallen. Denn auch das Deutsche Musik­automaten­museum in Bruchsal besitzt eine ähnliche Welte-Orgel, deren Geschichte nicht bekannt ist, von der aber vermutet wird, dass sie ursprünglich für die «Titanic» bestimmt war. Denn die selbst­spielenden Konzert­orgeln des deutschen Herstellers Welte in Freiburg im Breisgau waren damals der letzte Schrei der Technik. Fest eingebaut im grossen Treppen­haus des Schiffs, würde eine solche Orgel die Rolle des Orchesters weitgehend übernehmen. Sie konnte Tanzmusik genauso gut wie kirchliche Musik am Sonntag spielen, ab Papier­konserve oder von einem lebendigen Organisten. Selbst tief unten in der dritten Klasse wäre sie noch immer gut zu hören gewesen. Zudem hätte die Orgel auf der «Britannic» den Passagieren ein völlig anderes Sound-Erlebnis geboten als das mittler­weile historisch belastete Orchester in einem Schiff, das zwar grösser und sicherer war, aber der «Titanic» zum Verwechseln ähnlichsah.

Für den Orgel­hersteller Welte waren die grossen Schiffe ein interessanter Markt. Das Publikum war nicht nur während ein paar Stunden da, sondern während fünf bis sechs Tagen. Zudem war es bei dem auf dem Nordatlantik häufig schlechten Wetter meist drinnen und hatte kaum etwas anderes zu tun als essen, lesen und Musik hören. Entsprechend gross wäre auch der Bedarf an möglichst vielen Papier­rollen mit unterschiedlicher Musik gewesen.

Der Bau der «Britannic» verzögert sich

1913 gingen in Freiburg die Arbeiten an der «Britannic»-Orgel voran und ebenso an einer zweiten, fast identischen Orgel für das Salomons Estate der britischen Salomons-Familie, der unter anderen der erste jüdische Bürger­meister der Stadt London entstammte. Gleich­zeitig liefen die Arbeiten am Schiff in Belfast buchstäblich aus dem Ruder. Mit dem Untergang der «Titanic» wurden die Arbeiten gestoppt. Der leitende Ingenieur und Schiffbauer Thomas Andrews sowie weitere Spezialisten waren auf der «Titanic» gestorben. Und nun musste das Design der «Britannic» mitten in der Bauphase massiv verändert und verbessert werden. Das Schiff bekam zusätzlich zum doppelten Boden seitlich einen doppelten Rumpf, die wasser­dichten Abteilungen wurden verstärkt und die entsprechenden Schottwände erhöht. Wegen der grösseren Breite gab es leistungsfähigere Maschinen und zusätzlich riesige Rettungs­bootkräne, die bei starker Schlag­seite auch die Boote auf der anderen Schiffs­seite erreichen konnten.

Das alles verzögerte die Fertig­stellung der «Britannic». Der Stapellauf fand schliesslich im Januar 1914 statt. Erst unmittelbar nach Kriegs­ausbruch, im September 1914, als noch nicht klar war, wie lange und wie katastrophal der Krieg werden würde, wurde sie schliesslich ins Trocken­dock geschleppt, um die Propeller zu installieren und sie endgültig fertig zu bauen. Doch dann verschoben sich die Prioritäten. Der Bau kam kaum mehr vorwärts. In Nordfrankreich tobte der Grabenkrieg, potenzielle Auswanderer nach Amerika, von denen das Geschäft mit den grossen Dampfern damals abhängig war, starben zu Hundert­tausenden in Granat­hagel und Giftgaswolken. An Reisen und Luxus war nicht mehr zu denken, an die Installation einer Orgel aus einem Land, gegen das man nun Krieg führte, sowieso nicht.

Verwundete Soldaten statt High Society

Als der von Winston Churchill angestossene Angriff gegen die Türkei auf den Dardanellen für die Briten immer mehr zum Desaster wurde, requirierte die britische Admiralität die «Britannic» und liess sie zum Spital­schiff umbauen. Ab dem 12. Dezember 1915 war sie für Verwundeten­transporte im Einsatz. Fünf Reisen durchs Mittelmeer verliefen erfolgreich. Aber bei der sechsten lief die «Britannic» bei der griechischen Insel Kea auf eine von einem deutschen Minenleger platzierte Seemine. Der Schaden war viel kleiner als die grössten anzunehmenden Unfälle, für welche die «Britannic» nach dem «Titanic»-Desaster ausgelegt war. Aber während des Spital­schiff­betriebs hatte sich eine gewisse Sorglosigkeit eingeschlichen. Selbst in Gefahren­gebieten wurden die wasserdichten Türen nicht mehr präventiv geschlossen, weil das die Arbeit behinderte. Doch nach der Explosion der Mine liessen sich nicht mehr alle Türen schliessen, und das Schiff lief unaufhaltsam voll. Zudem hatte das Pflege­personal gegen alle Befehle die Bullaugen zum Lüften geöffnet. Kaum tauchte das Schiff etwas tiefer ins Wasser, drang durch die vielen offenen runden Fensterchen immer schneller Wasser ein. Auch eine verzweifelte Aktion des Kapitäns, mit voller Kraft auf die nahe Insel Kea zuzufahren und das Schiff da auf den Strand zu setzen, half nicht mehr. Es sank innerhalb von 55 Minuten. Dabei kamen 30 Menschen ums Leben, die meisten in zwei zu früh zu Wasser gelassenen Rettungs­booten, die von den aus dem Wasser tretenden Propellern zerstört wurden.

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