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Fondazione Sasso San Gottardo, Jürg Hunziker Der Gotthard hat viel zu erzählen – vom Durchgangsverkehr, von der Energiegewinnung und von den Festungsgeschützen, die gegen Italien zielten.
Ökologie

Guisan, das Reduit und die grosse Frage

Am Gotthard hätte im Zweiten Weltkrieg die Alpenfestung verteidigt werden sollen. Noch heute ist nicht klar, weshalb. Der Erste Weltkrieg war ein Krieg der Artillerie. Grosse Geschütze pflügten in permanenten Kanonaden ganze Land­striche um und verwandelten sie in Mond­land­schaften. In den Jahren danach planten die Militär­strategen deshalb mit viel Beton und grossen Kanonen, während Infanteristen mit Tornister und Gewehr ein Ding der Vergangenheit schienen.

Das standardisierte Maschinen­gewehr 08/15 hatte sie zwischen den Schützen­gräben in Flandern zu Millionen weggemäht. Flugzeuge schienen zur Aufklärung und für gelegentliche Luftkämpfe gut, für Bomben reichte die Leistung erst bedingt. Auch hier waren Kanonen kampfstärker. Allerdings ist den Planern nicht entgangen, dass das riesige, von Igor Sikorski als Zehnplätzer konstruierte Flugzeug «Ilya Muromets» ab 1914 mit schweren, sehr leistungs­fähigen Funk­geräten bis zu sieben Stunden über einem Kriegs­schauplatz kreisen konnte. Aus grosser Höhe funkte es der russischen Artillerie – von Flug­abwehr­kanonen und deutschen Jagd­flugzeugen völlig ungestört – genaue Informationen zu Zielen und Treffern.

In diesem Geiste entstanden die Festungen auf dem Gotthard, aber auch die französische Maginot-Linie, die als uneinnehmbarer Wall gegen jede deutsche Aggression galt und welcher Militärplaner in ganz Europa nacheiferten. Denn bis 1939 galt die französische Armee, und nicht etwa die deutsche Wehrmacht, als die stärkste Armee Europas. Die Deutschen haben die Maginot-Linie denn auch nicht eingenommen. Sie haben sie umgangen.

70 Festungen in den Alpen

War der Festungsbau in der Schweiz schon in der Zwischen­kriegszeit intensiv, steigerte er sich im Zweiten Weltkrieg ins Fieberhafte. An 70 Stellen in den Alpen entstanden riesige Anlagen. Das Reduit wurde im Osten begrenzt durch die Festungen Sargans und Mels und im Westen durch St-Maurice. Die grössten Anlagen in den Zentralalpen waren jene am Gotthard. Im Wallis gibt es unter­irdische Festungen mit einem Höhen­unterschied von 1000 Metern – mit Liften und Stand­seil­bahnen für die Munition und Treppen für die Soldaten. Gemäss der «Reduitstrategie», der «Alpenfestung», von General Henri Guisan, sollte sich die Armee in die Alpen zurück­ziehen und die Pässe so blockieren, dass es keinen Sinn ergeben hätte, die Schweiz anzugreifen.

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Geschütze sind in Felsnischen versteckt und mit Kettenvorhängen geschützt und schon aus wenigen Hundert Metern Entfernung kaum mehr zu erkennen.

Guisans Strategie war umstritten, auch wenn er immer betonte, die Schweiz habe ihre erste Schlacht verloren, wenn sie angegriffen würde. Das «Reduit» zwang einen Grossteil der Schweizer Männer während Jahren zum Nichtstun in die Berge. Ihre Frauen mussten auch die Jobs der Männer übernehmen und fühlten sich schutzlos vor einem befürchteten deutschen oder italienischen Angriff, während die Männer in relativer Sicherheit in den Alpen sassen. «Was bringt es, Felswände und Gletscher zu verteidigen, während sich der Feind in den lebens­wichtigen Landwirtschafts- und Industrie­gebieten des Mittellandes breitmacht?», wurde sogar innerhalb des Offizierskorps höhnisch gefagt.

Alle Kanonen zielen auf Mussolinis Restaurant

Doch Guisan handelte nach damaligem bestem Wissen und Gewissen. Dass die Vorstellung der modernen Artillerie­schlacht während des Kriegs von Infanteristen und Pferden aus den Angeln gehoben wurde, war nicht sein Fehler. Im Ersten Weltkrieg stammten die häufigsten Verletzungen von Artillerie­einschlägen und Granat­splittern, im Zweiten Weltkrieg waren es Schuss­verletzungen. Der Erste Weltkrieg war ein Krieg der Eisenbahnen, der Zweite ein Krieg der Schuhsohlen und Pferde – mit gigantischen Fussmärschen, wie man sie seit der Zeit Napoleons und seiner Grande Armée in Russland nicht mehr gesehen hatte. Aber das war Guisan egal. Er wollte nirgends hin. Er wollte sich in den Alpen und im Jura eingraben und einen Angriff auf die Schweiz so unattraktiv wie möglich machen, egal ob nun die Deutschen die Maginot-Linie umgehen, in die Schweiz vorstossen oder ob Italien am Splügen, San Bernardino, Gotthard oder Passo San Giacomo angreifen wollte. Dorthin hatte Benito Mussolini eine Strasse bauen und zwei Eisen­bahn­wagen hoch­transportieren lassen, als Restaurant – und als Provokation.

Von diesem «Verpflegungspunkt» aus hätten italienische Truppen nur noch gemächlich das Bedrettotal hinunter­marschieren müssen und wären nach wenigen Kilometern am Portal des Gotthard-Eisenbahn­tunnels angekommen. Erst die Fertig­stellung der Festung Sasso da Pigna im Dezember 1944 auf dem Gotthard verhinderte dies – und einer Handvoll weiterer Schweizer Festungen, deren Kanonen sternförmig auf den Passo San Giacomo zielten und einen italienischen Aufmarsch dort so hätten pulverisieren können wie die schwere Artillerie im Ersten Weltkrieg die unglücklichen Städtchen der Westfront.

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Dutzende von Kilometern militärischer Stollen durchziehen die Schweizer Alpen.

Der General baute für die Ewigkeit

Henri Guisan, der kleine alte Herr zu Pferd, der selten Deutsch sprach, übte auf die Deutsch­schweizer Soldaten eine starke Faszination aus. Man vertraute ihm. Aktiv­dienstleistende erinnerten sich noch nach Jahrzenten ehrfürchtig an «den General». Er wollte keine schnell hingepfuschten Bauwerke und bestand auch in der Hast des Kriegs auf Qualität. «Diese Bauwerke sollen auch kommenden Generationen jahr­zehntelang Sicherheit geben», betonte er.

Die Festungen wurden denn auch wirklich noch jahr­zehntelang weiterbetrieben und erst Ende der 1990er-Jahre oder später ausser Betrieb genommen – obwohl einige sogar noch um die Jahr­tausend­wende mit dem hochmodernen, weit­reichenden Bison-Geschütz ausgerüstet wurden. Damit wäre dann, Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Kriegs, der Zweite Weltkrieg definitiv mit den Mitteln des Ersten Weltkriegs zu gewinnen gewesen.

sasso-sangottardo.ch
 

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