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Wirtschaft

Erdgas, quo vadis?

Politische Stabilität und Ökologie waren einmal gute Argumente für Erdgas. Beides gilt nicht mehr. Künftig werden wir weniger Gas effizienter nutzen. Das Heizkraftwerk am Zürcher Flughafen ist eine riesige Fabrik. Es beheizt 20 000 Arbeitsplätze, Büros, Hangars, Terminals, Restaurants und Läden und liefert Strom für den Flughafen. Seine Ursprünge liegen in den 1960ern. Mit Schweröl befeuerte Dampfkessel trieben damals eine Dampfturbine zur Stromerzeugung an, die Abwärme heizte die Gebäude und die Infrastruktur.

Kessel und Systeme wurden seither laufend modernisiert, der Flughafen wuchs, Schweröl wurde längst durch viel saubereres Erdgas ersetzt. Seit den 1990ern erzeugt eine mit Erdgas oder Heizöl betreibbare Gasturbine Strom, und ihre Abwärme treibt inzwischen zwei Dampfturbinen an – ein modernes Kombi- oder GuDKraftwerk. Aber auch Blockheizkraftwerke (BHKW) funktionieren ähnlich. «Wir haben hier mit Strom- und Wärmeproduktion einen Wirkungsgrad von 90 Prozent», sagt Rudolf Landolt, Leiter der Energieversorgung am Flughafen Zürich. «Und die Anlage ist so gut in Schuss, aus technischen Gründen sehe ich kein Ende der Lebensdauer.» Rudolf Landolts Kraftwerk befindet sich am Knotenpunkt von Strom-, Gas- und Wärmenetzen. Es gibt kaum eine effizientere Art der Nutzung von fossilen Energien als solche Kraftwerke, die dazu noch auf Verlangen des Netzbetreibers das Stromnetz stabilisieren können. Auch deshalb sollen viele solche Anlagen wie jene am Zürcher Flughafen über die ganze Schweiz verteilt gebaut werden. Gleichzeitig benötigen die Anlagen einen fossilen Energieträger, der bis 2050 verschwinden soll. Was nun?

Der Tramnetz-Fehler

Die Gasbranche und damit auch die Gasnetzbetreiber sehen sich in einer schwierigen Situation mit ihrer milliardenteuren Infrastruktur. Sie gerät öffentlich unter Druck, wird aber auch dringend gebraucht, wenn Biogas aus organischen Abfällen, grüner Wasserstoff und synthetisches Methan in Zukunft eine grössere Rolle spielen sollen. Denn eine zerstörte Infrastruktur kommt nie zurück. Viele Städte mussten das erfahren, nachdem sie in den 1950ern ihre Tramschienen herausgerissen hatten. 20 Jahre später standen alle Busse im Stau, moderne Trams waren viel schneller und viel grösser, aber die Tramschienen weg. Beim Gasnetz droht derselbe Fehler. So haben verschiedene Schweizer Versorger angekündigt, die Gasnetze stilllegen zu wollen. Doch beim Versorger Regio Energie Solothurn macht man sich genauere Gedanken. «Unsere Energieplanung erfolgt übergeordnet, unter Berücksichtigung aller Energieträger», sagt etwa Thomas Schellenberg, Leiter Energie und Mitglied der Geschäftsleitung. «Beim Gas gibt es dafür eine Zielnetzplanung, die Leitungen mit hohem Verdichtungspotenzial identifiziert. Darauf konzentrieren wir uns. Ausserhalb dieser Gebiete haben andere Energieträger Priorität.»

Gas-Peaker für mehr Erneuerbare

Bei einer solchen Gasstrategie geht es nicht darum, möglichst viel Gas zu verheizen, sondern vielmehr darum, Gas als Ergänzung in der Stromversorgung und der Heizung zu nutzen. Heute produziert nur ein Bruchteil der verbrannten fossilen Energie auch Strom, so wie im Heizkraftwerk am Flughafen. Gleichzeitig entweichen grosse Mengen Industrieabwärme ungenutzt. Gasbasierte BHKW sind deshalb die ideale Ergänzung zu Wärmenetzen. Alle Wärmenetze benötigen Reserve- Wärmeerzeuger, falls die primäre Wärmequelle, meist Müllverbrennung, Holzschnitzel, Wärmepumpen oder Industrieabwärme, einmal nicht verfügbar ist. Diese Reservekapazität, «Peaker» genannt, ist aber auch an sehr kalten Tagen nötig. Laut Schellenberg können Gas-Peaker deshalb mithelfen, die verfügbare Energie aus Abwärme und erneuerbaren Erzeugern viel effizienter zu nutzen. Gleichzeitig erzeugen die BHKW den dringend benötigten Winterstrom und sorgen für eine Stabilisierung der Stromnetze, damit mehr Wind- und Solarstrom ins Netz gelangen kann. Ähnlich können Gaskraftwerke im Stromsystem funktionieren: für Spitzen im Winter und zur Stromnetz-Stabilisierung. Denn für jedes installierte Megawatt Wind- oder Solartechnik braucht es im Netz etwa fünf Prozent regelfähige Kapazität. Innerhalb einer Wind- und Solarstrategie gebaute BHKW erlauben sowohl einen schnelleren Ersatz von Ölund Gasheizungen durch Fernheizsysteme wie auch einen schnelleren Zubau der Erneuerbaren – und damit schneller mehr Wärmepumpen und Elektroautos, die zu 95 Prozent mit erneuerbarem Strom laufen. Deshalb kann Rudolf Landolt die Zurückhaltung gegenüber BHKW nicht verstehen: «Wenn wir bis 2050 klimaneutral sein wollen, müssen wir jetzt und heute alle technisch möglichen Massnahmen ergreifen», sagt er. Denn jede heute eingesparte Tonne Treibhausgas ist unendlich viel wertvoller als Dutzende erst in 30 Jahren.

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Energie ist immer politisch. Erst recht seit Russland, der grösste Gaslieferant Europas, die Ukraine angegriffen hat.

Energie ist politisch

Energie ist immer politisch, erst recht seit dem 24. Februar 2022, als der grösste Gaslieferant Europas, Russland, die Ukraine angegriffen hat. Ironischerweise wurde die europäische Gasinfrastruktur genau aus diesem Grund gebaut: um nach dem durch die Opec und die Saudis verursachten Ölschock Anfang der 1970er-Jahre unabhängig von unzuverlässigen Lieferantenländern zu werden. Denn das bisherige Öl-Abfallprodukt Erdgas kam aus den Niederlanden, Deutschland, Frankreich und Norwegen. Schon kurz darauf begann Deutschland, die Sowjetunion ins Gaskonzept mit einzubeziehen, mit der Lieferung von nahtlosen Mannesmann-Pipelineröhren. Und schon damals meinten Kritiker, das sei unverantwortlich. Doch Energiewaffen werden stumpf, sobald sie eingesetzt werden. Schon die Saudis provozierten eine Welle von Energiesparmassnahmen, ebenso wie Russland, nachdem es der Ukraine 2006 erstmals das Gas abgedreht hatte. Zudem wurde der Ausbau von Terminals für Flüssiggas (LNG) forciert, wo verflüssigtes Gas per Schiff ankommt und ins Netz eingespeist wird. Hauptlieferanten sind die USA, Katar und Australien. Die europäischen LNGEinspeisekapazitäten betragen schon 243 Milliarden Kubikmeter jährlich, während Russland im Boomjahr 2019 208,5 Milliarden per Pipeline lieferte, davon ein Viertel nach Deutschland. Mit den Flüssiggasterminals kann Europa das russische Gas zwar nicht sofort ersetzen, ist aber alles andere als machtlos. Schon seit Januar steigen die Mengen stark an.

Das Gasnetz nimmt jedes Gas auf

Zudem gibt es noch andere Gasquellen. Das Gasnetz könnte bis zu 10 Prozent seines Inhalts, ohne technische Veränderungen, an Wasserstoff aufnehmen, darüber hinaus unbegrenzt Biogas und synthetisches Methan aus Wasserstoff, der mittels Kohlenstoffs aus KVA oder Kläranlagen methanisiert wird. Allerdings redet die Politik zwar von Wasserstoffstrategien, doch sie schafft nicht einmal minimale rechtliche Voraussetzungen. Für «Power to Gas»-Anlagen, die überschüssigen Strom in Gas umwandeln könnten, müssen Betreiber, im Gegensatz zu Pumpspeicherwerken, Stromnetzgebühren zahlen. Dadurch lohnt sich der Betrieb nicht, und die bestehende Anlage der Regio Energie Solothurn steht still. Trotzdem ist Thomas Hegglin vom Verband der Schweizerischen Gasindustrie überzeugt, dass Gas in der Energiewende eine wichtige Rolle zukommt. «Netto null bis 2050 ist nur schwer ohne Gas realisierbar, vor allem zu erschwinglichen Kosten», sagt er. Und schon bis 2030 soll im Heizmarkt 30 Prozent erneuerbares Gas fliessen – das im Idealfall gleichzeitig Strom erzeugt. Die Kombination verschiedener Netze und Energieträger, sogenannte Sektorkopplung, ist extrem effizient. So setzt Dänemark seit den 1990ern konsequent auf Kombinationen von Wind und Sonne mit Fernheizsystemen. Damals hatte Dänemark etwa gleich viel Kohlestrom wie Finnland, das mit ähnlicher Wirtschaft und Bevölkerungsstruktur auf Kernkraft setzte. Dänemark konnte seinen Treibhausgasausstoss schneller senken und kommt 15 Jahre früher aus der Kohle raus als Finnland. Und so könnten denn Erdgas aus der EU, erneuerbares Gas und die Erdgasinfrastruktur eine entscheidende Rolle spielen in der Energiewende. Wir werden deutlich weniger Gas verbrauchen, und es wird weniger einzelne Häuser heizen und mehr Kraftwerke betreiben, wie jenes am Zürcher Flughafen, am Knotenpunkt von Strom-, Gas- und Wärmenetzen. Wenn man es denn lässt.

Gas- und Kernkraftwerke in der Schweiz?

Seit dem Abbruch der Verhandlungen zu einem Rahmenabkommen mit der EU geistert das Gespenst der Stromknappheit wieder durch die Schweiz. Während rechtsbürgerliche Parteien neue Atomkraftwerke ins Spiel brachten, setzt der Bundesrat auf Spitzenlast-Gaskraftwerke. Kernkraftwerke wird es nicht geben. Sie sind per Gesetz verboten, niemand will sie bauen, finanzieren oder versichern, und sie kämen um Jahrzehnte zu spät. Gaskraftwerke sind schnell zu bauen, und der öffentliche Widerstand ist kleiner. Doch es gibt ein gemeinsames Problem. Ein 1000-Megawatt-Kraftwerk benötigt einen Netzausbau im Umkreis von 200 Kilometern. Es gibt keinen Punkt in der Schweiz, der in alle Richtungen so weit von einer EU-Grenze entfernt ist. Sowohl grosse Gas- wie auch Kernkraftwerke sind deshalb nicht ohne Abkommen mit der EU betreibbar. Doch sobald es das Abkommen gibt, sind die Kraftwerke nicht mehr nötig.

 

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