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iStock / Margarete Schütte-Lihotzky / Marie Goslich / zVg Wonderbag Deutschland / zVg GoSun
Gesellschaft

Kochen in der Kiste

In vielen Teilen der Welt ist Energie nicht so billig wie in Europa. Das macht selbst simples Kochen zu einer teuren An­ge­le­gen­heit. Die neue alte Lösung dafür ist die Kochkiste. Eine Holz­­kiste, ein Glas von einem alten Fenster, und schon wird das Essen von selber heiss. Die orange Farbe ist fakultativ.

Die Koch­buch­an­wei­sung «Auf nied­rig­ster Stufe köcheln lassen» muss den Menschen in der Zeit vor dem Ersten Welt­krieg vor­ge­kom­men sein wie: «Lassen Sie Ihren Chauf­feur die Rad­mut­tern re­gel­mäs­sig kon­trol­lier­en» – eine Instruktion, die Reich­tum vor­aus­setzt. In einer Zeit, als Holz müh­sam in leer­ge­fegt­en Wäldern zu­sam­men­ge­sucht werden musste und sich der Gas­hahn nur öffnete, wenn am «Groschengrab» des Gas­zäh­lers eine Münze geopfert wurde, konnte sich das «Köcheln­lassen» niemand leisten.

Selbst ist die Frau

Dafür gab es die Koch­kiste. Reis, Bohnen, Kartoffeln oder Ein­töpfe wurden nur kurz an­ge­kocht. Es funk­tio­niert aber auch mit Polenta, Gulasch, Chili con Carne und vielem mehr. Die heisse Pfanne stellte man in die isolierte Kiste, wo das Essen mehrere Stunden lang fertig garen konnte. Wer keine Kiste hatte, stellte den Koch­topf ins Bett und wickelte ihn mit dem Duvet dick ein. Mit ge­schick­tem Timing hatte man dann gleich auch noch ein vor­ge­wärm­tes Bett und konnte sich noch einmal die eine oder andere Münze fürs Heizen sparen. Erfunden hat die Koch­kiste 1834 Freiherr Karl von Drais, dem wir auch das Lauf­rad ver­dan­ken. 

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Selbst ist die Frau, die mit Hammer und Nägeln eine ener­gie­spa­ren­de Kiste zimmert. Die Ent­wick­lung der Koch­kiste fiel zu­sam­men mit der frühen Suffragetten-Be­we­gung gegen Ende des 19. Jahr­hun­derts. Immer mehr Frauen wollten (oder mussten) ar­bei­ten und hatten weniger Zeit für den Haus­halt. Die Koch­kiste befreite sie vom Herd.

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In­dus­tri­ell pro­­du­­zier­te Koch­­kisten waren bereits vor dem Ersten Welt­­krieg weit verbreitet.

Doch erst ab den 1890er-Jahren wurde die Brenn­ma­te­ri­al sparende Gar­kiste richtig populär, als immer mehr Frauen be­rufs­tä­tig waren, stu­dier­ten und sich nicht mehr stun­den­lang an den Koch­herd binden lassen wollten. Die Koch­kiste verdankte ihre Ver­brei­tung deshalb auch der Suffragetten-Bewegung, jenen en­ga­gier­ten Frauen, die damals für das Stimm- und Wahl­recht für Frauen kämpf­ten und sich nicht mehr von Männern dominieren lassen wollten. Ent­spre­chend zeigten illustrierte Bau­an­lei­tun­gen aus jener Zeit Frauen, die sich mit Hammer und Nägeln ihre ei­ge­nen Koch­kisten zimmerten.

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In der Frankfurter Küche, welche die Ar­chi­tek­tin Margarete Schütte-Lihotzky 1926 ge­stal­te­te, war die Koch­­kiste ein zen­tra­ler Be­­stand­­teil. Die Frankfurter Küche war die erste ei­gen­tli­che Ein­­bau­­kü­che und wurde von ihrer Schöpferin als das «Labor der Hausfrau» be­zeich­net. Schütte-Lihotzky be­­trach­­te­te Haus­­ar­beit aus der Sicht in­dus­tri­eller Arbeits­­op­ti­mie­rung. Ent­sprech­end war die Koch­­kiste gleich neben dem Herd positioniert.

Fester Bestand­teil der «Frankfurter Küche»

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hielt man die Koch­kiste schliess­lich für so elementar für die moderne, ra­tio­na­li­sier­te Haus­halts­füh­rung, dass die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky sie 1926 in ihrer le­gen­dären «Frankfurter Küche» als festes Element ein­plan­te. Die Frankfurter Küche gilt als erste Ein­bau­kü­che der Welt, wurde als «Labor der Hausfrau» kon­zi­piert, mit in­dus­tri­ell-ef­fi­zi­en­ten Ar­beits­ab­läu­fen. Und sie sollte mit ihren winzigen Di­men­si­onen von sechs bis neun Qua­drat­me­tern den Lebens­mittel­punkt der Familie in neuen Sozial­woh­nun­gen von den proletarischen Wohn­küchen ins bür­ger­liche Wohn­zimmer ver­lagern. Die hand­wer­klich auf­wen­digen Elemente der Frankfurter Küche mit ihrer eleganten Ge­stal­tung sind heute gesuchte – und teuer bezahlte – Klassiker. Vor allem der cha­rak­te­ris­ti­sche Schrank mit den Schütt­be­hältern aus Aluminium für Reis, Nudeln, Zucker oder Mehl, be­schrif­tet mit gravierten Schildern, ist sehr gesucht.

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Der «Wonderbag» aus Südafrika ist die modernste Form der Kochkiste.

160 Grad an der Sonne

Solar­koch­kisten sind innen isoliert und ver­spie­gelt. Oft gibt es zwei Deckel, einen mit einer Glas­schei­be und einen zweiten mit einem Spie­gel, der zu­sätz­lich Licht und Wärme in die Kiste lei­tet. In Solar­koch­kis­ten sind ohne zu­sätz­li­che Energie­zufuhr Tem­pe­ra­turen bis zu 160 Grad möglich, vor­aus­ge­setzt, die Sonne scheint. Und wenn sie nicht scheint, tau­gen die Kisten als nor­ma­le Koch­kisten fürs an­ge­kochte Essen. Die Ent­wick­lung steht nicht still. Die süd­afri­ka­ni­sche Firma «Wonderbag» hat als Reaktion auf häufige Strom­aus­fälle im Land Koch­säcke ent­wick­elt, die nach dem­selben Prinzip funk­tio­nie­ren wie die Koch­kiste, aber weniger sperrig sind. Zudem stellt man die Pfanne mitsamt dem Wonderbag auf den Tisch, wo er das Essen wei­ter­hin warm hält. Die Firma ver­kauft die Säcke mit­tler­wei­le welt­weit und un­ter­stützt mit dem Ertrag be­dürf­ti­ge Familien.

Bau­­an­­lei­tung für eine moderne Koch­­kiste:
strom-sparen.com

Historische Bau­­an­­lei­tung für eine Koch­­kiste von 1918 im Buch «Die Koch­kiste, Selbst­­an­­fer­­ti­gung, Be­hand­lung, Rezepte»:
schmalenstroer.net

Die Koch­­säcke von Wonderbag sind eine moderne Variante der Kochkiste:
wonderbagworld.com

Solares Kochen hat eine welt­­weit wach­sen­de Fan­­ge­­mein­de mit einer grossen An­­zahl von Ge­räten und Bau­an­leitungen:
solarcooking.fandom.com

Postelektronische Do-it-yourself-Küche

Solar­kocher und Koch­kisten gibt es in Out­door­läden oder im In­ter­net, ebenso wie Koch­kis­ten der Schwei­zer Armee. Koch­säcke kosten zwischen 30 und 100 Franken. Ver­schie­de­ne Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­onen bie­ten zudem Bau­kurse für Solar­koch­kisten an oder ver­öf­fent­li­chen online Bau­an­lei­tun­gen. Die ul­ti­ma­ti­ve So­lar­koch­kiste fürs postelek­tro­ni­sche Zeit­alter be­steht aus einem ent­ker­nten Flach­bett­scanner oder einem aus­ran­gier­ten Foto­ko­pier­er, er­gänzt mit Isolations­ma­te­ri­al, Spiegeln und Alufolie.

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