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Denkerpose neben Weltkugel.
©KI
Energy by Turner

Betreutes Denken

Eine Gebrauchsanleitung zur kognitiven Selbstentmündigung.

Denken ist ein gefährlicher Akt. Wer es wagt, seine Hirnzellen zu aktivieren, läuft Gefahr, unliebsame Zusammenhänge zu erkennen. 

Es könnte einem nämlich dämmern, dass der eigene Lebensstil vielleicht doch nicht ganz kompatibel mit den planetaren Belastungsgrenzen ist. Oder dass die Klimakrise nicht nur das Problem von «denen da oben» ist, sondern vielleicht – ganz vielleicht – auch etwas mit dem eigenen SUV, dem Flug auf die Malediven und dem unermüdlichen Online-Modeeinkauf zu tun haben könnte.

Aber bloss keine Aufregung! In unserer durchoptimierten Gesellschaft wird niemand mit seinem Hirn alleingelassen. Willkommen im Zeitalter des Betreuten Denkens – mit einem Serviceangebot, das kognitive Dissonanzen durch präventives Abschalten ersetzt.

Energiewende ja – aber wenn's geht ohne mich

Natürlich ist der Klimawandel schlimm. Ganz schlimm sogar. Und wir müssen da dringend was tun – irgendjemand zumindest. Am besten jemand mit Kompetenz, Verantwortung und vor allem: jemand anderes. Wir, die betreut Denkenden, sind selbstverständlich jederzeit bereit, unser Konsumverhalten radikal zu hinterfragen, solange es uns nichts kostet und bloss nicht an unseren Gewohnheiten rüttelt.

Deshalb steht uns ein ganzes Arsenal an Ausreden zur Verfügung, um mit reinem Gewissen nichts zu tun. Die Favoriten:

  • «Solange China nichts macht, bringt das doch alles nichts.»
  • «Ich allein kann ja sowieso nichts bewirken.»
  • «Ich verwende Mehrweg-Einkaufstaschen statt Plastiksäckli, das reicht.»
  • «Ich habe einen Post auf Instagram mit Solarpanels geliked.»

Diese Ausreden kommen mit eingebauter Moralversicherung: Wer sich so engagiert auf die Untätigkeit anderer beruft, beweist, dass ihm immerhin bewusst ist, wie sehr andere versagen.

Elektroautos – die SUV-Verdrängungstherapie

Steht ein Elektroauto an der Ladesäule, formiert sich an der Benzintankstelle nebenan der Club der Empörten zum spontanen Faktencheck:

  • «Hast du schon gelesen, wie umweltschädlich die Batterieproduktion ist?»
  • «Die Rohstoffe kommen aus Kinderarbeit!»
  • «Und wie fährt er denn, hä? Bestimmt mit importiertem Kohlestrom!»

Dass der eigene Diesel noch immer gesetzliche Grenzwerte überschreitet und im Stadtverkehr Stickoxide à discrétion verteilt, ist dabei Nebensache. Entscheidend ist die Gewissheit, dass die anderen es noch viel schlechter machen.

Das Elektroauto erfüllt eine eminent wichtige Funktion im betreuten Denken: Es erlaubt die Projektion von Schuld auf eine noch junge Technologie, während man selber weiter mit gutem Gefühl 2,5 Tonnen Blech fossil durch die Innenstadt chauffiert – mit Sitz-Massagefunktion, Echtzeit-Verkehrs-App und innerer Reinwaschungs-Düse.

Windräder – der Feind im Blätterwald

Kaum wird irgendwo ein Windrad geplant, geraten die Landschaftsliebhaber in den Zustand akuter Schnappatmung. «Zerstörung der Natur!», «Verschandelung des Horizonts!», «Tod durch Schattenschlag!» – die mit Vorliebe in Regionalzeitungen geäusserten Argumente sind zahlreich, fantasievoll und oft so belastbar wie eine Seifenblase.

Die Natur, so scheint es, ist nur dann schützenswert, wenn man sie aus dem Cabrio bewundern kann. Eine Stromleitung durchs Tal? Aber nicht doch! Die Kühe könnten depressiv werden. Lieber also die Energie aus einem Atomkraftwerk in Frankreich beziehen, als dass man beim Wandern mal ein Windrad erblickt. Landschaftsschutz heisst im betreuten Denken: Schutz vor dem Anblick der Energiewende.

Atomkraft – die spaltende Lösung aller Probleme

Während Sonne und Wind nur unregelmässig scheinen und wehen, glänzen die Verfechter der Atomkraft durch kalkulierbare geistige Windstille. Auf die Frage «Was tun gegen die Klimakrise?» folgt reflexartig die Antwort: «Neue Atomkraftwerke!» Schliesslich haben die uns in der Vergangenheit schon zuverlässig versorgt – mit Strom, Zwischenlagern und jahrtausendelanger Verantwortung.

Zugegeben, der Bau dauert gerne mal 20 Jahre und kostet so viel wie eine mittlere Raumstation. Aber in Zeiten der Dunkelflaute – einem Wort, das klingt wie eine mittelalterliche Seuche – erscheint der Atommeiler, der nicht vom Wetter abhängt, wie ein Geschenk. Auch wenn er sich als grösste Hypothek für die nachfolgenden Generationen erweist.

Wer Atomkraft fordert, braucht sich keine Gedanken über Energieeffizienz, Speichertechnologien oder dezentrale Netze zu machen. Das Denken übernehmen andere – wir denken schliesslich betreut.

Party im Anthropozän

Die Gletscher schmelzen, der Permafrost taut, Wälder brennen, aber hey – heute Abend heisst's wieder: «After-Work-Aperöle!» Die Klimakrise darf uns nicht die Lebensfreude nehmen. Willkommen in der Ära der kognitiven Spaltung: Die Party ist bio, vegan und klimaneutral – aber trotzdem seltsam verpeilt.

Auf TikTok zeigen Influencer ihre Eco-Lifestyle-Ästhetik, während die Einflussreichen im Privatjet zur Klimakonferenz fliegen. An der Bar diskutieren junge Akademiker über nachhaltigen Kapitalismus, mit einem Mojito aus importierter Minze und peruanischem Bio-Limettensaft. Und der DJ? Legt zum Thema passend «The Final Countdown» auf.

Zumutungen der Realität

Betreutes Denken ist die patente Alternative zu den Zumutungen der Realität. Es hilft uns, Widersprüche zu überbrücken, ohne Brücken bauen zu müssen. Es erlaubt uns, Teil der Lösung zu sein, ohne das Problem zu überwinden. Und es schützt uns vor dem schmerzhaften Prozess eigener Reflexionen. So retten wir täglich unser Weltbild, während sich die Welt einfach weiterdreht – mit uns und ohne uns.