Faszinierende Kälte im Vallée de Joux
Das Waadtländer Uhrental entfaltet im Winter einen besonderen Charme. Im Winter wird der Lac de Joux zu einer gigantischen Eisbahn.
Das Waadtländer Uhrental entfaltet im Winter einen besonderen Charme. Im Winter wird der Lac de Joux zu einer gigantischen Eisbahn.
Entlegen, entrückt, dazwischen und sehr kalt. Das Vallée de Joux liegt zwischen dem warmen Genferseegebiet und Frankreich. Am Zugfenster ziehen Lärchen vorbei, der Baum der Kälte und der Berge, und dann der See, ein Bergsee in einer arktisch anmutenden Welt. Überall stehen hohe Brennholzstapel. Aus den Kaminen steigen feine Rauchfäden und wickeln sich um die Häuser, bis die Gebäude in kleinen Rauchknäueln verschwinden. Der Wind fegt im Winter bissig über den See, und die Blechverkleidungen an den Häusern verhindern, dass er die hart erarbeitete Wärme wieder hinausbläst.
Wenn der See zufriert, verwandelt er sich in eine riesige Schlittschuhbahn und entwickelt ein eigenes Leben. Der Wind bringt die Eisdecke zum Schwingen. Der See singt und heult und jault mit Tönen, die sich mal da und mal dort durchs Tal wälzen, überall und nirgends. Manchmal knackt und knirscht und knallt das Eis. Es ändert da und dort seine Farbe, sieht einmal aus wie gefrorene Wellen und dann wieder wie klares Wasser.
Die Kälte hatte schon immer nicht nur Nachteile. Sie wurde zum heimlichen wirtschaftlichen Motor des Tals. Erst wurde hier die Holzkohle für die Schmieden von Vallorbe hergestellt, und dann kam in den 1870er-Jahren die Eisenbahn. Plötzlich fand sich das Tal nicht mehr am Rand, sondern auf halbem Weg zwischen Italien und Paris. Die Bauern begannen, das Eis des Sees in Blöcke zu sägen und zu verkaufen. Es gab im Tal spezielle Eislager, wo die Blöcke auf Schlitten ankamen und sorgfältig in Sägemehl verpackt auf die Eisenbahn umgeladen wurden. In den Städten wurde das Eis teuer verkauft, Brauereien waren grosse Abnehmer. In Privathäusern legte man es sich in den isolierten «Eiskasten», um Lebensmittel zu kühlen. Das Vallée de Joux, ein Lieferant für ein natürliches Luxusprodukt, schon damals – bis die Eismaschine das Geschäft ruinierte. Doch da hatten die Bauern des Tals schon die Uhrmacherei entdeckt. Die Werkzeuge waren klein und handlich, und die ganze Familie konnte mitarbeiten in den Ateliers im Dachstock mit den grossen Fenstern.
Diese Uhrmacher-Bauernhöfe gibt es noch immer im Tal. Doch in jedem Dorf residiert mittlerweile eine international bekannte Uhrenmarke. Am Anfang waren sie nur billige Zulieferer für die Genfer Uhrmacher, Heimarbeiter, wie fast alle zu Beginn der Industrialisierung in der Schweiz. Sie machten Kronen, Lünetten, Zeiger, Zahnräder. Doch immer mehr konzentrierte sich das Wissen im Tal für alle Komponenten. Schliesslich brauchten sie die Genfer nicht mehr, und die Kälte schloss das Wissen im Tal ein. Rund um den See entstanden Fabriken, die aussahen wie Schulhäuser, mit grossen Fenstern und Arbeitsplätzen, in denen die Uhrmacher in der Sonne sassen: die Arme auf den brusthohen Arbeitstischen aufgelegt, in einem Auge eine Lupe, konzentriert an winzigen Wunderwerken arbeitend. Im Tal mit gerade mal 6000 Einwohnern gibt es heute rund 40 Firmen der Uhrenbranche – eine pro 150 Menschen.
Bei Jaeger-LeCoultre in Le Sentier gibt es eine Art Schaulager, in dem Dokumente, technische Zeichnungen und Uhrwerke zugänglich sind. Da ist etwa die winzige Duoplan von 1920 mit einem Uhrwerk auf zwei Ebenen, das es erlaubte, eine Uhr in einem grazilen Damen-Armband zu verstecken. 1932 entwickelte man in schönstem Art déco die Reverso für Polo spielende Offiziere des britischen Empire. Die Uhren waren am Armband drehbar, damit der metallene Boden gegen aussen zeigte und die Uhr schützte. In der Abteilung «Haute Horlogerie» arbeiten Uhrmacher bisweilen während neun Monaten an einer einzigen Uhr. Die Teile haben oft nur die Dimensionen von Staubkörnern. Bei Jaeger-LeCoultre ist das Gyro-Tourbillon der Stolz der Firma. Es enthält die Unruhe, welche der Uhr den Takt vorgibt, bestehend aus mehr als 100 Teilen und doch kaum ein Gramm schwer.
Dieser Mikro-Wahnsinn wird in der Haute Horlogerie «Komplikationen» genannt, mit Minutenrepetitionen, in denen angeschlagene Klangdrähte die Zeit erklingen lassen, mit ewigen Kalendern oder nur schon einem «normalen» Tourbillon. Die Teile sind heute nur noch mit modernsten Werkzeugmaschinen herstellbar, auch wenn sie nachher von Uhrmachern und sehr vielen Uhrmacherinnen in wochenlanger Arbeit zusammengebaut werden. Und dann schlägt plötzlich wieder die ganz alte Uhrmacherwelt durch. Jaeger-LeCoultre hat ein paar sehr alte Guillochier-Maschinen aufgetrieben – klobige Mönsterchen aus Holz, mit einem Drehfutter, einer Art Rund-Schraubstock einer alten Drehbank, und improvisiert scheinenden Gewichten. Sie heben das Gewicht des klobigen Aufspannwerkzeugs auf, sodass es mit Handrädern schwerelos nach allen Seiten bewegt werden kann. Auf eine Uhrenrückseite oder ein Zifferblatt lassen sich so, mit einem Stahlstichel, Strich für Strich komplizierte Muster zeichnen. Durch ein Mikroskop scheint die winzige Uhrenwelt riesig gross, das Werkzeug wird nur mit einem Finger sanft ans Werkstück gedrückt. Verändert man den Druck nur ganz leicht, wird der Strich breiter oder schmaler – malen mit Stahl auf Stahl und feinstem Gespür. «On peut s’amuser – et on peut s’oublier!», lacht die Uhrmacherin. Man hat Spass dabei – und kann sich dabei völlig vergessen.
Das ist es, was das Vallée de Joux ausmacht. Sich vergessen, wenn man dem Ufer des Sees entlangspaziert, wenn der Wind feine Staubwirbel aus Schneekristallen übers Eis treibt, während sie in den Häusern mikroskopisch kleine Wunderwerke bauen, hier in diesem kalten Tal zwischen den Welten.
Besuchen Sie mit unserer «Strom»-Leserreise das Vallée de Joux und lassen Sie sich verzaubern.
Uhrmacher sind Meister darin, Energie in kleinsten Mengen zu erzeugen, zu speichern und zu portionieren. Als Speicher dienen meist Federn, und die Energie kam ursprünglich durch das Aufziehen in die Uhr. Buchstäblich «auf-gezogen» wurden die schweren Steine, welche den Kirchturmuhren als Energiequelle dienten. Mit dem automatischen Werk für Armbanduhren erfand die Branche ein Uhrwerk, das sich dank der Bewegungen des Armes selbst aufzieht. Viele dieser Technologien wurden durch Batterien und elektrische Antriebe verdrängt, feiern aber teilweise ein Comeback. So gibt es Versuche mit Herzschrittmachern, die sich ähnlich wie automatische Uhren selbst aufziehen. Die Operation zum Wechsel der Batterien würde somit entfallen. Eine der spektakulärsten «Energiemaschinen» der Uhrenbranche ist die «Atmos»-Uhr von Jaeger-LeCoultre. Sie zieht sich allein durch Änderungen der Temperatur im Gehäuse auf.
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