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Wirtschaft

Russland und sein Gas

Der Grössenwahn des ewigen Rohstoffexporteurs. Europas höchster Wolkenkratzer ist das Gazprom-Headquarter in St. Petersburg, jener Stadt mit deren Gründung sich Russland nach Europa öffnen wollte, Russlands Fenster zum Westen. Wladimir Putin hat das Fenster zugeknallt, und die Ukraine liegt in Scherben.

Russlands Ambitionen waren schon immer grösser als seine Möglichkeiten. Der trotzige Grundsatz «Russland will geachtet und gefürchtet werden» zieht sich wie ein roter Faden durch Jahrhunderte russischer Geschichte. Und immer ist das Land an diesen Ambitionen gescheitert. Finanziert wurden sie immer mit demselben Mittel: Rohstoffe gegen Geld und Technologie – der ewige russische Deal, mit dem schon die Zaren versuchten, mit den anderen Grossmächten mitzuhalten, es aber nie schafften. Der berühmteste unter ihnen, Peter der Grosse, versuchte, gleich den ganzen Geist der damals führenden Grossmacht zu importieren, indem er seine neue Hauptstadt St. Petersburg nach niederländischem Vorbild baute. Trotzdem galt das kaiserliche Russland immer als Koloss auf tönernen Füssen: dröhnender Militarismus, aber abhängig von Importen, regiert von einer undurchsichtigen, kleinen Machtelite und einem unsicheren Autokraten.

Tanker und Pipeline

Der Anfang der russischen Energie-Bonanza liegt denn auch in der Zeit des russischen Kaiserreichs. Damals finanzierte die Rothschild-Bank alle möglichen Projekte in der Ölindustrie, sowohl Förderung als auch Raffinerie und Transport. Darunter war auch die transkaukasische Eisenbahn zwischen Baku (heute Aserbaidschan) am Kaspischen Meer und Batumi am Schwarzen Meer in Georgien. Als die Bahn 1893 eröffnet wurde, kam deren Chefingenieur auf die Idee, statt Öl in Fässern und Zisternenwagen zu transportieren, es durch ein langes Rohr zu pumpen. Ähnlich kreativ wie beim Landtransport waren die Rothschild-Ingenieure auf dem Wasserweg. Statt Öl in Fässern auf Schiffe zu laden, pumpten sie die Ladung direkt in den wasserdichten Schiffsrumpf speziell gebauter Tanker und liessen die Schiffe wie volle Flaschen durchs Meer und die Wolga hinaufschwimmen. 1907 wurde die erste Pipeline der Welt von Baku nach Batumi eröffnet, 885 Kilometer lang, 16 Pumpstationen, mit einer Kapazität von 980 000 Tonnen Leuchtpetrol jährlich. Denn vor der durchgehenden Elektrifizierung war Beleuchtung das Hauptgeschäft der Ölindustrie. Diese russischen Transportinnovationen, Pipeline und Tanker, machten das kaiserliche Russland bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs für kurze Zeit zum grössten Ölproduzenten der Welt.

Nach der Revolution und mit dem bis 1921 tobenden Bürgerkrieg schrumpfte die Ölproduktion und wurde erst nach und nach wieder in Betrieb genommen. In den 1930er-Jahren trieb Stalin die Industrialisierung mit aller Macht voran. Sein aus Odessa stammender Industriekommissar Saul Bron engagierte den jüdischen deutsch-amerikanischen Industriearchitekten Albert Kahn, um die Sache zu organisieren. Kahn hatte in Chicago Wolkenkratzer gebaut, vor allem aber auch komplette Fabriken für Packard, Caterpillar oder International Harvester. Diese Fabriken wurden praktisch 1:1 in der Sowjetunion dupliziert, darunter die legendäre Traktorenfabrik von Stalingrad, die im Krieg hauptsächlich T-34-Panzer baute. Aber auch Henry Ford verdiente gut in der Sowjetunion. Er baute in Gorki (heute wieder Nischni Nowgorod) eine noch heute existierende Autofabrik, in welcher der Ford A in Lizenz gebaut wurde. Die Sowjets bezahlten die US-Firmen in zwei Währungen: Die eine war rigoros beschlagnahmtes Getreide, vor allem aus der Ukraine, was den Holodomor zur Folge hatte – die organisierte Hungerkatastrophe, der rund fünf Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die zweite wichtige Währung war Öl aus dem Kaukasus und dem Kaspischen Meer, den damals einzigen sowjetischen Förderregionen.

Amerikanische Sollbruchstellen

Allerdings bauten die US-Planer in die von ihnen konzipierten Fabriken strategische Flaschenhälse ein, dank deren die sowjetische Industrie in gewissen Bereichen immer auf äussere Hilfe angewiesen sein würde, vor allem, wenn die Sowjetunion grössere Kriege führen wollte. Zudem war der Betrieb ohne US-Personal praktisch nicht möglich. Ohne das zu wissen, fühlte sich Stalin gegen Ende der 1930er-Jahre stark genug, um die Industrialisierung als rein sowjetische Errungenschaft umzudeuten. Er liess alle US-Spezialisten verhaften und viele von ihnen hinrichten. Auch Saul Bron wurde 1937, auf dem Höhepunkt von Stalins Terror, verhaftet, ein Jahr später erschossen und in einem Massengrab verscharrt. Die Produktivität der sowjetischen Industrie sank erheblich, auch jene der Ölindustrie. Die Wirtschaft konnte praktisch nur noch mit Gefangenen in Zwangsarbeit einigermassen am Laufen gehalten werden, viele von ihnen in der Sharaga, etwas besseren Gefängnissen innerhalb des Gulag-Systems für Facharbeiter. So konstruierte Flugzeugpionier Andrei Tupolev zusammen mit Tausenden seiner ursprünglich freien Mitarbeiter jahrelang als Häftling in der Sharaga Flugzeuge.

Beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 zeigte sich, dass die Ölvorkommen im Kaukasus und am Kaspischen Meer für die Sowjetunion fast wertlos waren. Nicht nur hatte Stalins Terror ihre Kapazitäten reduziert, auch kam die deutsche Armee auf ihrer Jagd nach Öl bis nach Grosny in Tschetschenien und stand so zwischen den sowjetischen Ölquellen und den sowjetischen Truppen. Treibstoff für die sowjetische Armee musste deshalb über Murmansk und Wladiwostok über die Lend-Lease-Verträge aus den USA importiert werden – insgesamt zwischen 60 und 80 Prozent des Treibstoffs – und 100 Prozent des hochoktanigen Benzins, das die modernen sowjetischen Hochleistungs-Kampfflugzeuge Jakowlew Jak-3 oder Iljuschin Il-2 benötigten.

Betteln in Washington

Wie das Deutsche Reich in Spanien führte auch die Sowjetunion 1939 einen Testkrieg in Finnland – und versagte kläglich. Beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion mussten Stalins Diplomaten deshalb schon wenige Tage nach dem deutschen Angriff in Washington um Unterstützung betteln, wo man nur zu genau wusste, was drei Jahre zuvor mit den US-Spezialisten geschehen war.

Nach dem Krieg war eines der Ziele der Sowjetunion deshalb, Energiequellen möglichst hoch im Norden und dadurch geografisch vor einem Angreifer geschützt zu finden und technisch unabhängig zu sein von Importen und ausländischen Spezialisten. Das war am Anfang nur Kohle, die man von Häftlingen in so unwirtlichen Orten wie Workuta, einer Gulag-Stadt am Polarkreis, aus dem Boden graben liess. Der Fund von Erdgas und die Entwicklung der Gasfelder in genau jener Gegend in Westsibirien, an der Mündung des Ob und später bei der Jamal-Halbinsel, verschafften der Sowjetunion deshalb neue Möglichkeiten. Erdgas war zwar schon seit Jahrhunderten bekannt, wurde aber immer nur als Problem verstanden, weil es Schlagwetterexplosionen in Kohleminen verursachte und meist nur schlecht genutzt werden konnte.

Salz und Gas

Weil Erdgas oft unter unterirdischen Salzkuppeln gefangen ist, fand man es immer wieder beim Bohren nach Salz. Schon im 3. Jahrhundert v. Chr. wurde in China deshalb Gas genutzt, um in Salzpfannen das Wasser zu verdunsten und so Salz zu gewinnen. Doch wirklich genutzt wurde Erdgas vor allem in den USA. 1950 lagen die USA mit 92 Prozent bei Förderung und Verbrauch weltweit einsam an der Spitze der Erdgasnutzung. Zur gleichen Zeit betrug der Anteil des Erdgases am fossilen Energieverbrauch in Deutschland lediglich etwa 1 Prozent. Das weit verbreitete Stadtgas wurde damals noch durch Kohlevergasung hergestellt. Erst in den 1970er- und 1980er-Jahren wurden dann die städtischen Gasnetze auf Erdgas umgestellt.

Die Situation in Europa und der Sowjetunion änderte sich radikal mit den westsibirischen Gasfeldern, die in den 1960ern entdeckt wurden und wo in den 1970ern mit der Produktion begonnen wurde. Plötzlich hatte die Sowjetunion gigantische Mengen Gas – und brauchte mal wieder ausländische Technologien und Devisen, um damit etwas anfangen zu können. Die Gasfunde fielen in die Zeit der sozial-liberalen Koalition in Deutschland und des von Kanzler Willy Brandt propagierten Konzepts «Wandel durch Handel», mit dem man die Sowjetunion besser in die westlichen Geld- und Warenströme einbinden wollte, um die Gefahr eines Kriegs zu mindern. Deutschland sollte nahtlose Pipelineröhren mit sehr grossem Durchmesser liefern sowie die in der Sowjetunion nicht vorhandene Technologie der Firma Mannesmann zu deren Herstellung. Der «Mannesmann-Röhrendeal» war heiss umstritten, und schon damals gab es Stimmen, die warnten, es sei unvernünftig, den Feind mit solcher Technologie auszustatten. Die Fabrikation wurde schliesslich in der Nähe von St. Petersburg aufgezogen, in der Izhorsky Zavod, einer Fabrik, die noch auf die Zarenzeit zurückging. Sie stammte aus den verstaatlichten Aktiven des grössten Industriekonzerns der Kaiserzeit, der russisch-baltischen Waggonfabrik Russobalt. Die Firma war ein «Mobilitätsunternehmen», das bis zur Revolution neben Rollmaterial auch Autos und Lastwagen herstellte. Zudem hatte es eine vielversprechende «Abteilung für Luftschwimmerei» unter der Leitung des jugendlich-genialen Ingenieurs Igor Sikorsky aus Kiew. Noch heute fliegen alle US-Präsidenten mit Helikoptern der von ihm nach seiner Flucht in die USA gegründeten Firma.

Das Ministerium wird zur Firma

Die nahtlosen Pipelineröhren ermöglichten der Sowjetunion den Bau riesiger Fernheizsysteme in fast allen Städten, betrieben mit sogenannten TETs, zu Deutsch wärmeelektrischen Zentralen oder Blockheizkraftwerken. Fernheizsysteme waren deshalb in der rechtsbürgerlichen Schweizer Politik lange verpönt. Sie galten als kommunistisch. Lieber heizte man mit Öl, das oft ebenfalls aus Russland kam. Auch heute noch werden rund zwei Drittel des geförderten Gases in Russland selbst verbraucht. Ab Ende der 1960er-Jahre wurde ein riesiges Gastransportnetz gebaut, das erst alle sowjetischen Satellitenstaaten und dann auch den Westen mit Gas aus Westsibirien versorgte und gleichzeitig immer mehr Devisen ins Land brachte. Organisiert wurde das Ganze zentral durch das Ministerium für Gasindustrie.

Als 1989 die Sowjetunion zusammenbrach, sackte die Ölproduktion, die schon vor der Perestrojka arg gelitten hatte, auf weniger als die Hälfte der installierten Leistung zusammen. Um Eisenbahnen und Spitäler am Laufen zu halten, verscherbelte der junge russische Staat die maroden Förderanlagen für wenig Geld an ein paar mutige Ingenieure und Finanzspezialisten, die späteren Oligarchen. Die viel modernere und besser funktionierende Gasindustrie dagegen blieb als Ganzes beisammen. Man liess das «Ministerium» im Namen einfach weg, und das Ministerium wurde zur Firma «Gasindustrie», russisch Gazprom. Praktischerweise wurde gleich auch der amtierende Gasminister CEO des neuen Konzerns. Er wurde später unter Boris Jelzin Premierminister und hiess Wiktor Tschernomyrdin. Schon das zeigt, wie nahe sich Gazprom und Staat immer waren und wie oft das schiefging. Tschernomyrdins berühmtestes Bonmot lautet: «Wir haben es gut gemeint, aber es kam wie immer.»

Gazprom als Geldautomat

So funktionierte der Übergang in die Marktwirtschaft damals überall in der ehemaligen Sowjetunion. Schon für die Regierung Jelzin war und blieb Gazprom der Geldautomat, der nach Belieben Scheine ausspuckte und sich für alle möglichen politischen Zwecke einspannen liess. Die Firma betreibt eigene Banken, Fluglinien, Spitäler und stieg auf Geheiss von Wladimir Putin ins Mediengeschäft ein, in dem die Firma eingeschüchterte freie Medien aufkaufen musste.

War Gazprom bis Mitte der 2000er-Jahre trotz Staatsnähe noch sehr auf unternehmerische Freiheit bedacht, wurden die Firma und ihre ganzen Aktivitäten immer stärker an die Politik des Kremls gebunden. Pipelineprojekte wurden immer mehr an verdeckte politische Ziele gekoppelt, gegenüber Russland «nette» Staaten bekamen das Gas viel günstiger als «unfreundliche». So zahlte die Ukraine schon vor 20 Jahren höhere Gaspreise als Deutschland. Russland stellte trotzdem mitten in den Wintern 2006, 2008 und 2009 die Gaslieferungen an die Ukraine teilweise ein, was auch im Westen zu Lieferengpässen und erbosten Kunden führte. Auch um die Ukraine unter Druck setzen zu können, ohne die westeuropäischen Kunden zu verärgern, wurden die Gasleitungen Nord Stream 1 und 2 gebaut – wobei die zweite wohl Schrott am Meeresgrund bleiben wird.

Der gestürzte Koloss auf tönernen Füssen

Gazprom spielte auch eine unrühmliche Rolle bei der Ruhigstellung des unliebsamen Oligarchen und Öl-Tycoons Michail Chodorkowski. Das Unternehmen kaufte die Assets von dessen Ölfirma Yukos in einer trüben Aktion und reichte sie ans damals winzige Unternehmen Rosneft weiter, das nun der grösste Ölkonzern Russlands ist. Mittlerweile ist Gazprom weit von einer unabhängigen Position entfernt und agiert als wirtschaftlicher Arm des Kremls – allen Beteuerungen zum Trotz, dass Russland nicht ewig von Öl und Gas leben könne.

Der Anteil der Öl- und Gaseinnahmen des russischen Staats liegt bei rund 65 Prozent und ist in den letzten Jahren noch angestiegen. Alles, was in Russland in den letzten Jahren entstanden ist, funktioniert nicht ohne westliche Hilfe – noch weniger als zur Zeit der Sowjetunion. Und fast alles wurde finanziert mit dem Export von Gas und im kleineren Umfang von Öl. So ist Russland noch immer der Koloss auf tönernen Füssen, den der eigene Grössenwahn zu Fall bringt.

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Das Lachta-Zentrum mit dem Headquarter von Gazprom ist das höchste Gebäude Europas. Es liegt ganz im Westen von St. Petersburg, in einer auf Sumpf gebauten Stadt, in der es per kaiserlichem Dekret verboten war, höher als die fünf Stockwerke des Winterpalastes zu bauen.

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