«Strommangellage» – das gewählte Wort des Jahres 2022 – ist bisher nicht eingetreten. Dennoch ist die Sache nicht ausgestanden. Eine Bilanz des letzten Winters. Und wir porträtieren Menschen, die mit Mangellagen anderer Art umgehen müssen.
Der Winter 2022/23 war der erste seiner Art: Die Zeichen standen aufgrund der geopolitischen Verwerfungen und weiterer Einflüsse wie des Abschaltens zahlreicher Atomkraftwerke in Frankreich auf einen Mangel an Energie. Strommangel ist laut dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz ein Toprisiko für die Schweiz und ihre Wirtschaft – und laut dem Schweizerischen Versicherungsverband nicht versicherbar. Viele Unternehmen, Gemeinden und Städte landauf, landab in allen Branchen haben sich auf zwei Szenarien vorbereitet:
Strommangel:
Im Stromnetz ist die Nachfrage nach Strom höher als das Angebot. Das bedeutet, den Energieverbrauch mit Sparmassnahmen oder Verboten zu reduzieren, neue Kraftwerke ans Netz zu bringen oder das Angebot an Strom nicht mehr allen Verbrauchern zukommen zu lassen. Geplant sind in einer Strommangellage deshalb als letzte Lösung in bestimmten Zeitfenstern (4–4 oder 4–8 Stunden) Netzabschaltungen.
Blackout:
Ein Totalausfall des Stromnetzes tritt ohne Vorwarnung auf. Dabei fällt nicht nur die Stromversorgung in Teilen der Schweiz oder flächendeckend aus, sondern auch weitere mit Strom betriebene Services. Bancomaten spucken kein Geld mehr aus, oder die Wasserversorgung in vielen Quartieren und Gemeinden fällt aus – wenn die Pumpen Strom benötigen. Solche Kettenreaktionen gelten als unkontrollierbar.
Zum Glück war der Winter 2022/23 relativ milde. Auch die im Jahr 2022 noch hohen Strompreise haben sich etwas beruhigt. Dennoch wäre laut Expertinnen und Experten eine Entwarnung verfrüht. Der Stromverbrauch steigt stetig an. Und steigende Preise haben laut «NZZ» nicht wie erhofft zum Energiesparen verleitet. Knapp 2 Prozent weniger Energie hat die Schweiz 2022 verbraucht.
Kommt es zu einem Mangel an Regen, einem trockenen Sommer, füllen sich die Pumpspeicherwerke nicht wie gewünscht. Wird der kommende Winter kälter und kann die Schweiz aufgrund von Gasmangel in Europa weniger importieren, droht es wieder knapp zu werden. Experten sind sich einig, dass eine angespannte Lage für die nächste Zeit zur Normalität werden könnte.
Für Menschen in der Schweiz ist Mangel in ganz anderen Bereichen ein Thema. Sie leiden unter Energiemangel, an Müdigkeit, oder ihnen fehlt das Geld für Nahrungsmittel. Drohender Schneemangel kümmert sie nur bedingt, ein beschränktes Energiebudget im Haushalt ebenso wenig. Und gegen Fachkräftemangel hilft Weiterbildung. Mit Mut und Zuversicht in die Zukunft.
Ihr Leben hat sich verlangsamt. Es mangelt der 46-jährigen Petra Gerber aus Thun immer wieder an Energie, den Alltag zu bestreiten. Fibromyalgie, eine chronische Schmerzkrankheit, die einhergeht mit Phasen der sogenannten «Fatigue». Das sei, als würde einem der Stecker gezogen, sagt sie. «Das alles macht meinen Körper nicht gerade zu einem leistungsvollen Apparat.»
Vielleicht darum ist sie vor ein paar Jahren, in einer Phase starker Erschöpfung, auf die Idee gekommen, rund um Lenny eine kleine Firma aufzubauen. Lenny ist eine Schnecke. Sie lacht: «Wie passend!»
Sie begann zu zeichnen, schöpfte Kraft und Mut daraus; fröhliche Tiere entstanden aus ihrer Hand, neben Lenny auch der Igel Matti, benannt nach ihrem Sohn, heute 7.
Aus der Tierfamilie entstehen jeweils innert Monaten Produkte und Geschichten, mit denen Petra Gerber Kindern eine Freude machen und die Botschaft der Freundschaft und der Liebe zur Natur nahebringen möchte. «Ich freue mich wie blöd über Rückmeldungen von Kindern oder wenn Eltern ihr Kind dank Lenny zum Zeichnen und Malen motivieren können.» An Ideen mangelt es ihr nicht, doch: «Tausend Fragen im Kopf und zu wissen, dass ohne Fokus nichts geht, das fordert mich tagtäglich.» Sie hat über ihre Website alleliebenlenny.ch bereits über 300 Produkte verkauft, dennoch mangelt es ihr auch an finanzieller Kraft. «Ich kann aber kreativ damit umgehen», sagt sie. Den Mut verliert sie nie: «Es geht langsam, aber es geht immer weiter!
Dem Verein Restessbar Solothurn mangelte es bisher an einer dauerhaften Bleibe – wo Lebensmittel deponiert und gratis ausgegeben werden, anstatt sie wegzuwerfen. Damit behebt die Restessbar einen lebenswichtigen Mangel: die LebensmittelÜberflussgesellschaft. Nebenbei versucht der Verein, einen eigenen und dauerhaften Standort unter der Leporellobrücke aufzubauen.
Eine der grössten Herausforderungen ist die Finanzierung des neuen Standorts, da alle Vereinsmitglieder ehrenamtlich arbeiten, wie Carmen von Sury, 33, Sachbearbeiterin Rechnungswesen, Mutter von zwei kleinen Mädchen. Sie engagiert sich auch, um ihren zwei «Strahlemädchen» den Wert des Essens zu vermitteln. «Sie sollen das Thema Food Waste erleben und dürfen sich auch Essen für zu Hause aussuchen.»
Im letzten Jahr hat der Verein einen hohen Zuwachs an Food Savern registriert. «Eindeutig ein Zeichen für viele Mängel in verschiedenen Lebensbereichen », sagt Carmen von Sury. Jeder habe seine eigenen Beweggründe, kostenloses Essen abzuholen, ergänzt sie. «Es freut und berührt mich!»
Woran es Carmen von Sury nicht mangelt: neuen Freundschaften. «Echte Freunde, was in meinem Alter und meinem Alltag sonst eher schwierig ist».
Wenn es irgendwo im Winter 2022/23 an etwas gemangelt hat, dann auf den Skipisten. Im Skigebiet Sarn-Heinzenberg fehlt es auch an Skiliften. Vielleicht aber auch nicht. Zwei sind genug für die Betreiberfamilie Kalberer. Das Bündner Kleinstskigebiet wird von ihr seit 1970 als AG geführt. Zwei Lifte, 20 Pistenkilometer, eine Schlittelstrecke. Mehr ist da nicht, von der berückenden Bergkulisse mal abgesehen.
Stets wurde verändert, angepasst, erneuert, aber immer etwas langsamer als im Rest der Branche, weil stets aus eigenen Mitteln finanziert. Die Kalberers haben sich nie aus der Ruhe bringen lassen. Auch vom Schneemangel nicht, der so manches Skigebiet diesen Winter getroffen hat. Patron Anton Kalberer gab SRF News zu Protokoll, dass er ihn nicht fürchte. Von der Mittelstation nach oben, ab 1700 Metern über Meer, werde es immer Schnee geben. Und sein Sohn Christian ergänzt auf Anfrage: «Unser Hauptrisiko ist nur das Wetter. Es sind nicht die höheren Strompreise. Ein schönes Wochenende kompensiert mögliche Preiserhöhungen.» Allfälligem Schneemangel könne nur mit strikten Kostenreduktionen begegnet werden.
An Seelenruhe mangelt es in Sarn-Heinzenberg wahrlich nicht.
Die Energie-Pille
Yasmine El-Safty
Seit Kurzem lebt die Apothekerin Yasmine El-Safty, 33, in einer besonderen 2½-Zimmer-Wohnung in einer neuen Überbauung von Urdorf: Sie verfügt hier über ein Energiebudget von 100 kWh pro Monat. Sie zahlt für den Strom nur, wenn sie dieses überschreitet. «Das ist bisher nicht vorgekommen», sagt sie. Im Schnitt ist sie im Januar und Februar 2023 auf 60 kWh gekommen.
Es handelt sich um ein Leuchtturmprojekt der Stiftung Umwelt Arena Schweiz in Zusammenarbeit mit Minergie Schweiz. «Bauen 2050» besteht aus drei Mehrfamilienhäusern mit 39 Wohnungen, mit Photovoltaikanlagen an Fassaden und auf Dächern, mit Windrädern auf dem Flachdach, Erdsonden zum Kühlen und Heizen. Und im Winter leistet die Hybridbox, eine kompakte Energiezentrale mit Wärmepumpe, Blockheizkraftwerk und Wärmerückgewinnung, Unterstützung.
Yasmine El-Safty hat ihren Einzug bisher nicht bereut. Auf dem Tablet sieht sie mit leichter Verzögerung, wie sich ihr Energieverhalten auf den Verbrauch auswirkt. «Das hat mir bewusst gemacht, wie wertvoll Energie ist», sagt sie. Trotz limitiertem Budget fühlt sie keinen Mangel. Ganz im Gegensatz zu ihrer Studienzeit an der ETH. «Da habe ich einen permanenten Mangel an Geld gespürt», lacht sie. «Aber wenn man bewusst damit umgeht, dann fehlt es einem trotzdem an nichts.»
Karin erfuhr gleich nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften, wie die Welt der Unternehmen funktioniert. In Asien und Afrika spürte sie als eine der ersten Frauen in der IT-Beratung den inneren Zusammenhängen von Organisationen nach und kümmerte sich um die Einführung von technologischen Projekten.
In der Schweiz blieb sie schliesslich beim Stromkonzern Atel, der jetzt Alpiq heisst. «Hier habe ich es als eine der ersten Managerinnen in der Strombranche geschafft, Teilzeit für arbeitende Mütter einzuführen», beschreibt die Professorin die damalige Arbeitswelt. Sie lebt mittlerweile in Wallisellen. An der Fachhochschule Graubünden (FHGR) leitet sie unter anderem den Masterstudiengang in Energiewirtschaft.
Diesen hat die Wahlschweizerin bereits vor 14 Jah- ren gegründet. Damals wie heute hilft er, den Mangel an Fachkräften in der Schweiz zu beheben und angehende Führungskräfte auf den technologischen Wandel und die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Der Wandel ist dabei die Konstante in der Arbeit von Karin Eggert: Stets war sie eine Pionierin in der technologischen und männerdominierten Welt von IT, Telekommunikation und Energiewirtschaft.
Das grosse Engagement ihrer Studierenden beeindruckt Karin Eggert immer wieder. Ebenso sei der Zusammenhalt unter den Studierenden überdurchschnittlich hoch. Das ist für sie ein gutes Zeichen. Es zeigt ihr, dass die angehenden Managerinnen und Manager das nötige Engagement und Spass an der Sache haben: «Ein wichtiger Erfolgsfaktor für Innovation.» Leider gebe es immer noch zu wenig Frauen in diesem Berufsfeld.
Und was sieht sie für die eigene Zukunft? Sie lacht. Altershalber wird sie die Leitung Ende Jahr in neue Hände legen. Ideen für danach habe sie viele. Vielleicht führt es sie nochmals in die Forschung, ins Coaching oder zu einem ihrer Schulprojekte in Afrika? Mit ihrer offenen Art und rheinländischen Lebensfreude wird sie auf jeden Fall wieder auf Menschen treffen, die gemeinsam mit ihr zu neuen Ufern aufbrechen.
SO BEREITET SICH DIE SCHWEIZ VOR
Auf eine Strommangellage bereiten sich alle vor. Auch der Bundesrat. Wichtige Massnahmen der letzten Zeit:
Notkraftwerk in Birr AG: Das Reservekraftwerk soll mit acht Turbinen 250 Megawatt Strom für den Notfall liefern. Allerdings stösst es unverschämt viel CO2 aus. Dafür soll es nur in einer echten Strommangellage laufen.
Sonntags- und Nachtarbeit: Das Parlament hat jüngst die Bestimmungen aufgeweicht und will mit Nacht- und Sonntagsarbeit den Energieverbrauch besser verteilen.
Kraftwerksausbau: Die Energiewende soll nun beschleunigt werden, um besonders im Winter nicht von Importen abhängig zu sein. Politisch sind deshalb neue Solaranlagen in den Alpen, 15 Wasserkraftwerke und neue Windanlagen in Diskussion.
Massnahmen zur Vermeidung von Abschaltungen: Der Bundesrat hat vor kurzer Zeit den Massnahmenkatalog überarbeitet, der in einer Strommangellage zum Zuge käme, bevor das Netz abgeschaltet werden müsste. Neu verzichtet er beispielsweise auf Einschränkungen der Elektromobilität und beschränkt die Raumtemperaturen auf 20 Grad.
Es sieht nun zwar gut aus, doch die Elektrizitätskommission (Elcom) will nicht definitiv ausschliessen, dass im Winter künftig eine Strommangellage droht.
Die SBB sind laut einem neuen Bericht der Eidgenössischen Finanzkontrolle auf eine Strommangellage vorbereitet. Allerdings käme es so oder so zu Zugsausfällen.
Damit diese Website korrekt funktioniert und um Ihr Erlebnis zu verbessern, verwenden wir Cookies. Für weitere Informationen lesen Sie bitte unsere Cookie-Richtlinien.
Erforderliche Cookies ermöglichen grundlegende Funktionen. Die Website kann ohne diese Cookies nicht korrekt funktionieren und kann nur durch Änderung Ihrer Browsereinstellung deaktiviert werden.