Joao Silva arbeitet in einem gigantischen Kühlschrank – damit unsere Kühlschränke immer gefüllt sind.
Künstliche Kälte heizt die Welt auf
55 Grad Temperaturunterschied herrscht zwischen drinnen und draussen im Verteilzentrum von Aldi Suisse in Domdidier. Draussen ist sonnig-warmer Spätsommer, drinnen ist Logistikmitarbeiter Juan Vivo arktisch vermummt und transportiert mit einem elektrischen Stapler palettenweise die gefrorenen Selbstverständlichkeiten des Alltags herum: Fertiggerichte, Fisch und Fleisch. Die Selbstverständlichkeit ist erst möglich geworden, als Carl von Linde 1876 die Kältemaschine patentierte. Europas Brauereien wurden sofort begeisterte Kunden. Doch die Kälterevolution beschränkte sich nicht aufs Bier. In den USA zogen dank Klimaanlagen plötzlich sehr viele Menschen in den heissen, bisher demokratischen Süden, viele von ihnen Republikaner. Die künstliche Kälte verschob damit in den USA die politischen Gewichte. Auf der Arabischen Halbinsel leben heute 20 Millionen Menschen in Regionen, wo es vor 60 Jahren nur ein paar Hunderttausend in der Hitze aushielten. In Singapur sagte der ehemalige Premierminister Lee Kuan Yew: «Klimatisierung ist der Schlüssel zur Zivilisation in den Tropen.»
China kühlt sich ab
Noch vor zwanzig Jahren gab es kaum Klimaanlagen in China. Mittlerweile hat China die USA als grössten Markt überholt. Die Internationale Energieagentur (IEA) macht Kühlung für rund 12 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Die Agentur bezeichnet Kühlung in einem Report von 2018 als einen der «grössten blinden Punkte in der Energiediskussion». Kühlung in Gebäuden ist laut der IEA weltweit jene Anwendung, deren Energieverbrauch am schnellsten wächst. Dieser Trend wird sich stark beschleunigen. Gegenwärtig haben nur acht Prozent aller Menschen in den Tropen Zugang zu Airconditioning. Vor allem in Ländern wie Indien, Bangladesch oder Pakistan wird sich das ändern – und oft mithilfe von Kohlestrom. Zudem enthalten vor allem kompakte und billige Klimageräte noch immer das Kältemittel R410A, das aufs Klima den 2000-fachen negativen Effekt von CO2 hat. Allerdings wäre es relativ einfach, den Energieverbrauch durch Kühlung zumindest einzudämmen. Allein schon weiss gestrichene Dächer könnten viel mehr Sonnenlicht reflektieren. Aber auch weniger Glas an den Fassaden würde den Bedarf an Kühlung massiv reduzieren.
Revolution beim Essen
Künstliche Kühlung hat auch das Essen revolutioniert. Jener moderne, aber doch eher kleine Aldi-Supermarkt in einer unterirdischen Passage in Fribourg hat mit den klassischen «Tante-Emma-Läden» nur noch wenig gemein. Sowohl im Verteilzentrum wie im Laden machen gekühlte Produkte etwa ein Fünftel der Waren aus. Da sind offensichtliche Dinge wie Fleisch oder Fisch, aber auch frische Schnittblumen. Auch das frische Brot kommt als gefrorenes Halbfabrikat an und wird in der Filiale frisch aufgebacken. Beim Brot sorgt die Kühlkette dafür, dass immer nur die verkaufbare Menge bereitsteht und kaum etwas weggeworfen wird. Einigen Nahrungsmitteln sieht man die künstliche Kälte gar nicht an. Löslicher Kaffee, Haferflocken oder Kräuter und Gewürze werden mit hohem Energieaufwand in der Produktion gefriergetrocknet. Auch ganz normale Äpfel haben oft eine monatelange kühle Lagerung hinter sich. In Kernobstlagern werden sie vom Herbst über den Winter bis oft weit in den nächsten Sommer hineingerettet – ohne zu schrumpeln.
Kühlung braucht Diesel
Dreimal wöchentlich werden die Filialen vom Kühllastwagen mit Waren beliefert. Ein 40-Tonnen-Sattelschlepper verbraucht zwischen 20 und 26 Liter Diesel auf 100 Kilometer. Für den Betrieb des Kühltrailers kommen laut dem Trailerhersteller Krone 3,5 Liter Diesel pro Betriebsstunde dazu – für den Dieselmotor am Trailer, der einzig die Kühlanlage betreibt. Das sind zwischen 12 und 15 Prozent des Verbrauchs für den ganzen Transport, abhängig von der Fahrgeschwindigkeit. In der Filiale bleiben die Produkte dann erst mal in den grossen Kühlräumen und werden laufend in die Regale eingeräumt. Das funktioniert in allen Supermärkten ähnlich. Doch Aldi Suisse ist der einzige Schweizer Grossverteiler, der bereit war, ausführlich zum Thema Auskunft zu geben. Das Unternehmen erhebt monatliche Energiedaten und achtet auf möglichst ressourcenschonende Abläufe.
Kampf der Systeme
In nach dem Zufallsprinzip eingerichteten Läden heizen die Haustechnik und die Lampen. Kühlschränke kühlen zwar die Lebensmittel, heizen aber den Raum, und die Klimaanlage soll dann die ganze Wärme wieder aus dem Haus befördern. Jedes System kämpft mit höchster Leistung thermisch gegen das andere. In den Aldi-Filialen sind deshalb die meisten Kühlgeräte an einen zentralen Kühlkreislauf angeschlossen. In Fribourg wird er von einer containergrossen Kühl-, Heiz- und Lüftungseinheit ausserhalb des Ladens betrieben. Meist stehen die Anlagen aber in den Läden, und nur der Rückkühler steht im Aussenbereich. Damit erwärmen Kühlanlagen die Läden nicht unkontrolliert, können aber im Winter über Wärmerückgewinnung die Räume gezielt beheizen oder das Warmwasser erzeugen. Die Beleuchtung der Läden funktioniert ausschliesslich über LED-Lampen. Sie sparen Strom und vermeiden Abwärme. Zudem werden die Klimaanlagen der Läden nicht mehr mit dem Klimaschädling R410A betrieben. Sie hängen am selben Kühlkreislauf wie die Warenkühlung – mit Kohlendioxid als Kühlmittel.
Das Kühlhaus wird zum virtuellen Kraftwerk
Ähnlich sparsam mit der Kälte geht man im Verteilzentrum in Domdidier um. Hier gibt es einen «Vorkühlbereich» mit etwa 5 Grad Celsius, an den auch die Kühllastwagen andocken und wo die Waren versandfertig gemacht werden. Erst am Ende dieses als «Kältepuffer» dienenden Bereichs liegen die Eingänge der –5 Grad und der –25 Grad kalten Räume. Der Energielieferant des Verteilzentrums, die Groupe E, will diese Bereiche zu einem «virtuellen Kraftwerk» schalten, wie es in der Schweiz bereits mit anderen ähnlichen Anlagen gemacht wird. Es schadet der gefrorenen Pizza nicht, wenn sie einmal –20 und dann wieder –30 Grad kalt ist. Deshalb können die Kühlhäuser bei ausreichend vorhandenem Strom stärker hinunterkühlen und dann, wenn der Strom anderswo gebraucht wird, die Temperatur ansteigen lassen. Damit funktionieren sie als grosse Batterie und kompensieren die unregelmässige Einspeisung von Wind und Solarstrom ins Netz.
Technik richtig einsetzen
Doch von solchen clever-coolen Vernetzungen ist ein grosser Teil der Welt noch weit entfernt. In der saudischen Hauptstadt Riad verbraucht Kühlung bis zu 70 Prozent des Stroms, meist erzeugt durch Ölkraftwerke. Während heute die Welt für Kühlung rund 2000 Terawattstunden Strom verbraucht und rund 12 Prozent des menschengemachten CO2 emittiert, könnte sich diese Energiemenge bis zum Jahr 2050 verdreifachen. Aber Kühlung vermeidet auch während Hitzewellen nachweislich sehr viele Todesfälle und verhindert, dass Lebensmittel verderben. Vor der Erfindung der Kältemaschine waren Lebensmittelvergiftungen weltweit die häufigste Todesursache. Um zu verhindern, dass die künstliche Kälte den Planeten noch mehr anheizt, müssen lediglich die vorhandenen Technologien richtig eingesetzt werden. Das ist nicht so schwierig und wird immer öfter auch gemacht, wie die Beispiele in Fribourg und Domdidier zeigen. Darauf ein kühles Bier.
Am Anfang war das Bier
Kälte war noch im 19. Jahrhundert Luxus – und ein grosses Geschäft. Von den Alpen bis nach Finnland wurde im Winter mit langen Sägen Eis in grossen Blöcken aus Seen geschnitten, sorgfältig in Sägemehl eingepackt und per Bahn und Schiff verschickt. Hauptabnehmer waren Brauereien, die für die Produktion des ab 1850 in Mode gekommenen Lagerbiers konstant tiefe Temperaturen brauchten. Auch Privatleute kauften sich Eisklötze und legten sie in einen isolierten Schrank. In Basel sagt man noch heute zum Kühlschrank «Iiskaschte». Ab 1876 ruinierte Carl von Linde das Geschäft. Schon 1879 las sich die Referenzenliste seiner Kältemaschinen wie das Who’s who der Bierwelt: Spaten, Heineken, Carlsberg. Die Bierrevolution wurde zur weltweiten Kälterevolution.